Documenta fifteen: Resümee

100 Tage, 100 Nächte

Gemischte Gefühle machen sich breit, wenn man an die letzten hundert Tage zurückdenkt. Die documenta badete in so viel Kritik wie wahrscheinlich noch nie. Sicher leisteten viele Künstlerinnen und Künstler wertvolle Beiträge zur »Weltkunstausstellung«. Die »Eskalationsspiralen«, wie Kulturzeit-Moderatorin Cécile Schortmann die Vorkommnisse nennt, warfen aber einen langen Schatten über die documenta fifteen. Die Hessenschau fragt sogar: »War es die letzte?«

26. September 2022
Key visual documenta fifteen
© documenta fifteen 2022
Key Visual documenta fifteen

War es wirklich Kunst? 

»So schnell wird diese Ausstellung niemand vergessen«, heißt es in der Hessenschau zum offiziellen Ende der documenta fifteen am 25. September. Das ist wohl wahr. Viel Gutes hatte die ruangrupa mit dem Konzept der Ausstellung vor: Lumbung, Gemeinschaft, dem globalen Süden Raum in der exklusiven Kunstwelt geben. Und dann kam die Eröffnung – eingeprägt hat sich vor allem die antisemitistische Bildsprache, die sogleich beseitigt werden musste, für die aber niemand verantwortlich gewesen sein will. Sabine Schormann tritt zurück, ein beratendes Gremium gründet sich. Vieles drehte sich bei der documenta fifteen ausschließlich um die »Eskalationsspiralen«, wie Kulturzeit-Moderatorin Cécile Schortmann die Vorkommnisse nennt. Die Berichterstattung über die eigentliche Kunst blieb auf der Strecke. Dabei waren die Besuchsflächen jederzeit voll. 

Über das Gezeigte scheiden sich die Geister im Rückblick. Für die beiden Kunstexpertinnen Anjelika Spöth und Karina Chernenko ging der wertvolle Ansatz, weniger Geld in Hochkarätiges zu stecken und stattdessen auf ein nachhaltiges Miteinander zu setzen, auf. Besonders begeisterten sie die Werke des haitianischen Kollektivs Atis Rezistans in der Kirche St. Kunigundis. Sie zeigen den Geist der documenta fifteen – viele Arbeiten bestünden aus Autoteilen und beriefen sich auf den Leitsatz: »Hört auf, viel, viel Geld in die Produktion der Werke zu pumpen und benutzt das, was ihr zur Hand habt.«

documenta fifteen: Atis Rezistans | Ghetto Biennale, Studio Verve Architects, Vivian Chan, Martina Vanin,The Floating Ghetto, 2022, installation view, St. Kunigundis, Kassel, June 14, 2022
Frank Sperling
documenta fifteen: Atis Rezistans | Ghetto Biennale, Studio Verve Architects, Vivian Chan, Martina Vanin,The Floating Ghetto, 2022, Installationsansicht, St. Kunigundis, Kassel, 14. Juni 2022.

Sogar Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank und einer der größten Kritiker der diesjährigen documenta, zieht etwas Positives aus der Weltkunstausstellung: »Ich hatte das Glück [...] einige unglaublich tolle Werke zu sehen. Für mich war es wirklich ein Perspektivwechsel. Und das ist wirklich die große Stärke dieser documenta. Und diese Stärke werde ich auch immer mitbedenken und nicht nur den Antisemitismusskandal, wenn ich auf die documenta fifteen zurückblicke.«

Kein Ende, nur eine Reform

Manch anderer suchte die Kunst bei der kollektiv-geführten documenta für sich aber vergebens. Cécile Schortmann schreibt beim ZDF: »Man kann sich darüber streiten, wie gut politischer Aktivismus und Kunst zusammenpassen. Neben sehr überzeugenden Arbeiten fand auch ich einiges inhaltlich zu plump, künstlerisch zu plakativ oder stümperhaft. Wie den ebenfalls wegen antisemitischer Motive kritisierten Guernica Gaza-Zyklus des palästinensischen Kollektivs Question of funding.« Sie spielt auch auf den Verantwortungsdisput an, der sich im Laufe der Veranstaltung aufgetan hat. Chancen und Risiken des kollektiven Arbeitens müsse man hier abwägen. 

Daniel Hauke, Hessenschau-Reporter, kommt der Befürchtung, es könne die letzte documenta gewesen sein, entgegen. Alle seien sich einig: Die documenta wird es wieder geben. Sie brauche aber dringend eine Reform, so fordere es auch die hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst, Angela Dorn. »Es geht nicht darum, die Kunstfreiheit einzuschränken, aber in der documenta herrscht zum Teil eine strukturelle Verantwortungslosigkeit. Und hier muss man wirklich mal gucken, wer hat denn hier eigentlich den Hut auf, wer macht was?« Das habe man auch schon vor fünf Jahren erlebt, fünf Millionen Euro haben damals gefehlt. Wenn diese Reform gelingt, könne man der documenta auch wieder ohne Vorbehalte entgegenblicken, analysiert Hauke optimistisch. 

Und so zogen sich auch Sabine Schormann und Oberbürgermeister Christian Geselle zum Abschied der documenta wieder zurück: Interviews haben sie beide keine gegeben. »Auch Kassel braucht Ruhe«, ist das Fazit der Hessenschau.Art.Salon

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Documenta fifteen – Zwischenfazit

Die Weltkunstausstellung läuft noch 41 Tage. Mehr als die Hälfte ist um. Ist die Atmosphäre vergiftet? Das Kuratorenteam ruangrupa findet schon. Zwei Mitglieder des Kollektivs, Farid Rakun und Reza Afisina, äußerten sich in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung zu den Antisemitismusvorwürfen.

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