Sibylle Zeh im Interview

»Women in Art History«: Ein Buchprojekt macht tabula rasa

Das Schaffen der Bildenden Künstlerin Sibylle Zeh ist vielgestaltig: Ihr Portfolio umfasst von Malereien und Zeichnungen über Buchobjekte, Fotoserien und Collagen bis hin zu Textilobjekten und Installationen ein facettenreiches Spektrum künstlerischen Ausdrucks. Die Wahlberlinerin konzentriert sich bei ihrer Arbeit meist auf die Darstellung des »Abwesenden« oder »Verdrängten«.

von Bettina Röhl, 27. December 2021
Sibylle Zeh at work
©Thomas Eirich-Schneider | KobersteinFilm
Sibylle Zeh bei der Arbeit an ihrer Projektreihe »Women in Art History«.

Das wohl prägnanteste Projekt der Bildenden Künstlerin Sibylle Zeh, Women in Art History, könnte aktueller nicht sein: Während der öffentliche Diskurs um Gender-Pay-Gap und Frauenquote in Politik und Gesellschaft erst in den letzten Jahren so richtig an Fahrt aufgenommen hat, arbeitet sie bereits seit dem Jahr 2000 an ihrer feministischen Buchobjekt-Serie, die genau auf diesem Themenspektrum liegt. Die Relevanz des Kunstprojekts spiegelt sich nicht zuletzt darin wider, dass Zeh auch in der zweiteiligen ARTE-Dokumentation Lost Women Art. Ein vergessenes Stück Kunstgeschichte von Susanne Radelhof (2021) zu dem Thema interviewt wurde.

Die Basis für Women in Art History bilden kunstgeschichtliche Enzyklopädien, die bedeutende Personen der Kunstwelt porträtieren – schon beim Durchstöbern ihres späteren Primärwerks Reclams Künstlerinnenlexikon fiel Sibylle Zeh ins Auge, dass in der Originalfassung, dem Reclams Künstlerlexikon von 1979, recht wenige Frauen vertreten waren. Die Künstlerin wollte es aber genau wissen und nahm sich kurzerhand vor, alle männlichen Namen weiß zu übermalen. Das Ergebnis fiel wenig überraschend aus: leere Seiten dominierten das Buch fortan. Wir haben mit Sibylle Zeh über das Projekt und ihre Beweggründe gesprochen und nebenbei aus erster Hand interessante Fakten über die Vergangenheit und die Gegenwart der Branche erfahren.

 

Frau Zeh, Ihnen war sicherlich bereits vorab bewusst, dass der Frauenanteil in den Lexika, die als Grundlage für Women in Art History fungiert haben, niedrig ausfallen wird. Inwiefern hat Sie das Ergebnis Ihrer Arbeit überrascht?

Das erste Werk, das ich für meine Serie Women in Art History überarbeitete, war das Reclams Künstlerlexikon von 1979. In der ersten Auflage dieses Lexikons gab es 4.500 Einträge über bildende Künstlerinnen und Künstler aller Zeiten und Gattungen. Davon handelten allerdings nur 79 Einträge von Künstlerinnen (68 Kurzbiographien und 11 Erwähnungen in Gruppen oder künstlerischen Bewegungen). Als ich dann mit dem daraus entstandenen Reclams Künstlerinnenlexikon zu einer Ausstellung eingeladen wurde, hatte ich mich kurzerhand dazu entschlossen, eine spätere Auflage zu übermalen, weil ich dachte, das Thema habe sich in der Zwischenzeit »erledigt«, doch der Frauenanteil war auch hier immer noch verschwindend gering. In der dritten Auflage von 2002 gab es nun 5.200 Gesamteinträge, allerdings nur 169 über Künstlerinnen (154 Kurzbiographien und 15 Erwähnungen in Gruppen oder künstlerischen Bewegungen). Bei sechs davon handelte es sich um Künstlerpaare. Unter den 180 Abbildungen befanden sich gerade einmal acht Werke von Künstlerinnen, drei davon von Künstlerpaaren. Die 700 Einträge, die seit 1979 hinzugekommen waren, betrafen also vorwiegend männliche, zeitgenössische Künstler, die es geschafft hatten, in den Kunstkanon aufgenommen zu werden.

Als ich Das große Lexikon der Graphik (Westermann) übermalt habe, fand ich es außerdem sehr überraschend, dass die meisten Maler auch als Graphiker gelten, bei den Malerinnen war das nicht so. Interessant war auch, wie deutlich man durch die Verteilung und Anzahl der Bilder sehen konnte, wie »Bedeutung« hergestellt wird. Das fängt schon beim Einband an: Auf dem Schutzumschlag des Malerei Lexikons von A bis Z (Honos) befinden sich beispielsweise 57 kleine Abbildungen von Werken der Malerei. Nicht eine Abbildung zeigt das Werk einer Künstlerin.

»Neben Gender-Pay- und -Show-Gap: Gender-Picture-Gap«

In den Künstlerlexika und kunsthistorischen Überblickswerken gibt es also neben dem »Gender-Show-und-Pay-Gap« auch noch einen »Gender-Picture-Gap«. Das lässt sich ganz einfach an den Fragen ablesen, wer überhaupt eine Abbildung erhält, und wenn jemand eine erhält, ob sie in Schwarzweiß oder in Farbe abgedruckt wurde, wie groß sie ist, wem gleich mehrere Abbildungen gewidmet werden und wer auf das Cover kommt. Im bereits erwähnten Malerei Lexikon von A bis Z (Honos) gibt es 1.200 Abbildungen, wovon nur 21 Arbeiten von Künstlerinnen zeigen. Eine ganzseitige Abbildung erhalten nur zwei Künstlerinnen.

Im großen Lexikon der Graphik (Westermann) gibt es in dem Bereich, in dem die Geschichte der Graphik und der Techniken erläutert werden, gar keine Illustration weiblicher Kunst. In der Abteilung, in der Schlagwörter und Begriffe erklärt werden, befindet sich ein einziges Bild der Graphik einer Frau. Die Gesamtanzahl der Bilder im ganzen Lexikon liegt bei sechs von insgesamt 700.

Lost Women Art, formation process
©Thomas Eirich-Schneider | KobersteinFilm
Männliche Künstler werden übermalt.

Wie sind Sie auf diese Form des Projekts und die Thematik gekommen? Was hat Sie dazu inspiriert?

Die Thematik hat mich schon während meines Studiums an der Akademie der Bildenden Künste in Wien und an der Hochschule für Angewandte Kunst in Wien beschäftigt. Es gab mehr weibliche als männliche Studenten, aber dafür einen Zeitraum, nämlich zwischen 1992 und 1995, in dem keine einzige Professorin eine sogenannte »Meisterklasse« leitete. Nach meinem Diplom (1996) vollzog sich langsam ein Generationswechsel und der Anteil an Professorinnen stieg an. Außerdem arbeitete ich während meines Studiums als Aufsicht in allen großen Wiener Museen. Nur eine Handvoll Werke stammte zu dieser Zeit von Künstlerinnen, und bei denen handelte es sich zumeist um Leihgaben.

»Umfrage im Freundeskreis fungierte als Startschuss für das Projekt«

Ein weiterer Anlass, das Lexikon zu übermalen, war eine Umfrage im Freundeskreis für mein Projekt Wanted, eine Serie von Künstlerinnenporträts, mit der ich mich auf Gerhard Richters Arbeit Achtundvierzig Porträts bezog. Ich forderte Freundinnen und Freunde auf, mir zehn Namen von Künstlerinnen zu nennen, die sie gut und wichtig finden. Obwohl die befragten Personen alle Kunst studiert hatten, war kaum jemand in der Lage, mir auf Anhieb eine Liste mit zehn Namen zu erstellen. Für die Serie verwendete ich dann die wenigen Namen, die aufgezählt worden waren. Als Ausgangsmaterial dienten Reproduktionen aus Ausstellungskatalogen, die ich mit Blaupausenpapier durchzeichnete. Mit der Zeit verblassen die Zeichnungen.

Und wie ging es dann so richtig los?

Das erste Werk, das Reclams Künstlerlexikon, fand ich zufällig bei einem Trödler in Wien. Beim ersten Durchblättern wurde mir schon bewusst, wie wenig Künstlerinnen darin enthalten waren. Für mich war das Buch aus Frauenperspektive fast leer, es gab im ganzen Lexikon nur eine einzige Abbildung von Käthe Kollwitz. Um diese Wahrnehmung auch anderen zu verdeutlichen, kam ich auf die Idee, das gesamte Buch mit weißer Farbe zu übermalen und nur die Einträge über Frauen stehen zu lassen. So entstand das Reclams Künstlerinnenlexikon, indem unzählige leere Seiten überblättert werden müssen, bis wieder ein lesbarer Text, die Biografie einer Künstlerin, erscheint.

Was die Form des Projekts betrifft, haben mich Lexika schon immer fasziniert. Das »Weglassen, um etwas sichtbar zu machen«, habe ich vorher schon als Methode für mich entdeckt: Für den Kunstpreis Ökologie 1993 schnitt ich aus einem Naturlexikon sorgfältig alle Abbildungen der Pflanzen- und Tierwelt heraus, und gab das Buch leer ab. So entstand das Buchobjekt: »Die Neue Weltordnung«.

Lost Women Art, blank pages
©Thomas Eirich-Schneider | KobersteinFilm
Die leeren Seiten verbildlichen, wie wenig Frauen in den Lexika vertreten sind.

 In Ihrer Reihe Women in Art History konzentrieren Sie sich auf Ausgaben aus einer Zeitspanne von 1979 bis 2009. Was hat sich seit Beginn Ihrer Arbeit geändert? Hat sich generell etwas an der Verteilung von Frauen in der Kunst getan? Was ist Ihr Eindruck?

In letzter Zeit kam etwas in Bewegung. Das Thema »Sichtbarkeit von Frauen in der Kunst« und die Forderung nach mehr Vielfalt werden endlich breiter diskutiert und besser umgesetzt. Es gibt mehr Professorinnen an Kunstakademien, Museumsdirektorinnen. In den Galerien, auf der documenta, auf Biennalen, auf Kunstmessen etc. werden mehr Künstlerinnen gezeigt. Die nigerianisch-belgische Künstlerin Otobong Nkanga erhielt im November 2020 den ersten Platz im Ranking der »Stars von morgen« des Capital. Untersuchungen, Publikationen und Aktionen zum Gender-Show-Gap und -Pay-Gap von diversen Initiativen und Vereinen wie dem bbk, fair share!, kunst + kind, NGBK, Gedok, Frauenmuseum Berlin, Institut für Strategieentwicklung (IFSE) und mehr zeigen: Ein Grundstein ist gelegt, aber es gibt noch viel zu tun.

»Ein Grundstein ist gelegt, aber es gibt noch viel zu tun.«

Verschiedene große Ausstellungshäuser haben zuletzt ausschließlich Künstlerinnen Ausstellungen gewidmet und dazu Werke von Frauen aus dem Depot geholt. Das Londoner Museum Tate Britain zeigt in seiner ständigen Sammlung Sixty Years nur weibliche Positionen und setzt auf mehr Vielfalt. In Paris lief im Musée du Luxembourg dieses Jahr die Ausstellung: Peintre femmes mit Malerinnen aus dem 18. Jh., die in Frankreich kaum jemand kennt. In der Fondation Beyeler in Basel gibt es die Ausstellung Close-up, in der die Entwicklung der Porträtmalerei mit Bildern von Frauen nachgezeichnet wird. In der Alten Nationalgalerie in Berlin gab es von 2000 bis 2020 keine einzige Einzelausstellung, die einer Künstlerin gewidmet war, dafür aber 2019/2020 die Veranstaltung: Kampf um Sichtbarkeit – Künstlerinnen der Nationalgalerie vor 1919. In der wiedereröffneten Schausammlung der Neuen Nationalgalerie in Berlin finden sich nun 22 Werke von Künstlerinnen.

Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob die Ausstellungshäuser ihre Ausstellungs-, Ankaufs- und Personalpolitik nachhaltig ändern werden und so endgültig mehr Vielfalt und mehr Frauen einziehen werden. Ein Rückschlag war die Absage Franziska Giffeys, die zuletzt das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend leitete, über die finanzielle Unterstützung des Gabriele-Münter-Preises. Der Preis wurde nicht mehr ausgelobt, obwohl er gerade für Künstlerinnen ab 40 eine Chance zum Wiedereinstieg in den Kunstmarkt bot.

Obwohl zwischen 1979 und 2009, den Herausgeberjahren der zugrundeliegenden Nachschlagwerke, 30 Jahre liegen, sehen die Ergebnisse Ihrer Werke ähnlich aus. Liegt das Ihrer Einschätzung nach tatsächlich am Mangel von (erfolgreichen) Künstlerinnen in der Kunstgeschichte? Gäbe es ausreichend Künstlerinnen, die in einem kunstgeschichtlichen Werk vorgestellt werden könnten?

Es gab natürlich nicht zu allen Zeiten gleich viele erfolgreiche Künstlerinnen und Künstler. Frauen durften ja erst viel später Kunst studieren als Männer und zum Beispiel Akte zeichnen. Zuvor erhielten sie nur einen Zugang zur Branche, wenn ihre Väter oder Ehemänner (manchmal auch Söhne) Künstler waren. Trotzdem haben sie aufgeholt – umso wichtiger ist es, die Positionen von Frauen zu zeigen, »die es geschafft haben«.

Lost Women Art, blank pages
©Thomas Eirich-Schneider | KobersteinFilm
Man muss lange blättern, bis man eine Künstlerin in den Büchern findet.

Ein gutes Indiz gegen den Mangel an erfolgreichen Künstlerinnen und für die mangelnde Sichtbarkeit ist mein Buchobjekt 60 Jahre 9 Werke. Dafür habe ich den Ausstellungskatalog »60 Jahre, 60 Werke. Kunst aus der Bundesrepublik Deutschland 1949 – 2009«, der 2009 anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Martin Gropiusbau erschienen ist, übermalt. In dieser Ausstellung waren die Frauen deutlich unterrepräsentiert, gerade einmal sieben Werke von Künstlerinnen und zwei Werke von Künstlerpaaren wurden dort gezeigt, und das aus einem Zeitraum von 1949 bis 2009, in dem es ganz bestimmt keinen Mangel an erfolgreichen Künstlerinnen in Ost- und Westdeutschland gab.

Haben Sie vor, die Reihe Women in Art History auch in Zukunft noch weiter fortzuführen? Und Veränderungen ggf. zu dokumentieren?

Künstlerfreundinnen und -freunde, die mein Projekt Women in Art History lieben, haben mir diverse Lexika und Ausstellungskataloge geschenkt, die noch auf ihre Bearbeitung warten - also ein klares Ja!

Haben Sie als Künstlerin auch selbst Erfahrungen damit gemacht, zu den »Verdrängten« zu gehören? Wenn ja, möchten Sie diese einmal schildern?

Nein. Über Verdrängung kann ich mich nicht beklagen. Hier aber ein kleiner Vergleich: Spielt ein Maler in einer Band, ist er multibegabt und ein Genie! Spielt eine Malerin in einer Band, denken alle, sie hätte aufgehört zu malen.

Wie sieht es bei Ihren eigenen »Vorbildern« aus: Haben Sie selbst mehr weibliche Vorbilder? Haben sich diese im Laufe ihrer Karriere geändert?

Ich hatte und habe ungefähr gleich viele weibliche und männliche Vorbilder.

Gibt es eine Künstlerin, die Sie nachhaltig beeindruckt hat? Wenn ja, welche ist das?

Agnes Martin.

Aus Ihrer heutigen Sicht: Welche Tipps würden Sie jungen Nachwuchskünstlerinnen mit an die Hand geben?

Die Writings / Schriften von Agnes Martin lesen und: immer schön weitermachen.Art.Salon

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