Louise Bourgeois‘ Frühwerk

»Zeichnungen sind Gedankenfedern«

Louise Bourgeois ist eine der berühmtesten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Besonders ihre großformatigen Spinnen-Plastiken bringt man mit ihr in Verbindung. Die frühen Arbeiten der Künstlerin stellen aber vor allem Zeichnungen dar. Diese waren für Bourgeois psychologisch und künstlerisch essentiell, weshalb sie sie bis an ihr Lebensende täglich zeichnete.

von Marius Meyer, 26. July 2022

Als Louise Bourgeois (1911-2010) Mitte der 1990er-Jahre begann, ihre teilweise bis zu 9 m hohen bronzenen Spinnen-Plastiken zu kreieren, kehrte sie eigentlich zu ihren Wurzeln zurück: Eine heute im Privatbesitz befindliche Zeichnung einer Spinne beweist, dass Bourgeois das Tier bereits 1947 als Symbol für ihre behütende Mutter nutzte. Die Kunstwelt fasziniert sie mit diesen zutiefst persönlichen Werke auch heute noch: Im Juni 2022 wurde eine der großen Plastiken von 1996 auf der Art Basel für 40 Millionen US-Dollar verkauft. Louise Bourgeois erklärte die Grundlage ihres künstlerischen Schaffens so: »Ich vergebe nicht und ich vergesse nicht. Das ist das Motto, das meine Arbeit nährt.«

Leben in Paris

Louise Bourgeois wurde 1911 in Paris geboren und konnte bereits früh mit ihrem Zeichentalent glänzen: Ihre Eltern betrieben eine Werkstatt zur Restauration alter Stoffe, für die Bourgeois schon als Kind Zeichnungen als Ergänzung für fehlende Teile anfertigte. Ihr Leben ist geprägt von den Erniedrigungen durch ihren Vater, dem das enge Verhältnis zu ihrer schützenden Mutter gegenüberstand. Als diese 1932 verstarb, unternahm Bourgeois einen Suizidversuch. Ihr Mathematikstudium gab sie anschließend auf und wandte sich stattdessen einem Kunststudium zu.

Dort entdeckte sie den Surrealismus und schuf Zeichnungen, die von persönlichen Erlebnissen geprägt sind. Ihr Leben lang wird Bourgeois diesem Prozess über alle künstlerischen Medien hinweg treu bleiben: »Meine Werke sind die Rekonstruktion vergangener Ereignisse. Die Vergangenheit ist in ihnen greifbar geworden; aber gleichzeitig sind sie geschaffen, um die Vergangenheit zu vergessen, sie zu besiegen, sie wieder zu erleben und das Vergessen der Vergangenheit zu ermöglichen.«

Während ihrer Studienzeit soll Fernand Léger auf Bourgeois aufmerksam geworden und ihr gesagt haben, dass sie eine Bildhauerin, keine Malerin sei. Bourgeois begann zunächst eine Karriere als Kunsthändlerin und lernte den Kunsthistoriker und ihren späteren Ehemann Robert Goldwater kennen. Nach der Hochzeit 1938 zogen sie nach New York. Bourgeois‘ kommende Lebensjahre waren erfüllt von der Erziehung ihrer drei Söhne und dem Versuch, entgegen des Rates Légers als Malerin in der Metropole Fuß zu fassen.

Louise Bourgeois

„Femme Maison“.

Found at Grisebach
Auktionen 237-246 - Third Floor. Schätzwerte bis EUR 3.000, Lot 1369
Estimate: 2.500 - 3.000 EUR
Price realised: 3.625 EUR
Details

Frühe Gemälde in New York

»Was mich überraschte, war, dass die Menschen, selbst ihre langjährigen Anhänger und Freunde die Gemälde nicht in allen Einzelheiten kannten«, sagte die Kuratorin Clare Davies zur Ausstellung Louise Bourgeois: Paintings 2022 im Metropolitan Museum. Es ist die erste Präsentation, die sich auf Bourgeois‘ Gemälde fokussiert. Sie entstanden in den 1940ern, bevor die Künstlerin ab etwa 1950 schließlich doch bildhauerisch tätig wurde.

Bourgeois thematisierte in den Gemälden vor allem ihren Umzug nach New York und ihren neuen Alltag als Mutter. Besonders stechen die düsteren Bilder der Serie Femme Maison (1946/47) heraus, wo Gebäude mit den Armen, Beinen und Geschlechtsteilen von Frauen verschmelzen und zu teils gequälten Lebewesen werden. Bourgeois bringt hier ihre gemischten Gefühle zum Ausdruck, das eigene Heim als Rückzugsort und als Gefängnis zu empfinden.

Ähnlich erging es ihr mit dem Umzug, durch den sie zwar Abstand zum Vater gewann, aber auch den Kontakt zur restlichen Familie verlor, die nun im von Nationalsozialisten besetzten Frankreich lebten. Mit einer Mischung aus Bleistiftzeichnung und Ölgemälde hielt Bourgeois dieses einschneidende Erlebnis im Selbstporträt The Runaway Girl fest. Dieses Bild ist eines von 12 Gemälden, die 1945 in ihrer ersten Einzelausstellung in der Bertha Schaefer Gallery in New York zu sehen waren. Bourgeois bediente sich einer recht kompromisslosen Bildsprache und behandelte psychologische Themen, wodurch sie in der Szene auffiel, sich aber nicht dauerhaft etablieren konnte. Später beschrieb die Künstlerin es als Glück für ihr Schaffen, dass sie zunächst für sich selbst arbeiten konnte und erst später mit aus ihrer Sicht künstlerisch wertvolleren Skulpturen bekannt wurde. Sie entdeckte, dass sie mit plastischen Arbeiten ein größere Realitätsnähe erreichte und Emotionen besser verbildlichte: »Ich konnte viel tiefere Dinge in drei Dimensionen ausdrücken.«

Louise Bourgeois

Ode à Ma Mère (Ode to My Mother) (MoMA 4b-12b)

Found at Phillips, New York Auction
Editions & Works on Paper, Lot 19
20. Apr - 22. Apr 2021
Estimate: 30.000 - 50.000 USD
Price realised: 68.040 USD
Details

Zeichnungen als Spiegel des Lebens

Trotz des Bruchs in ihrem Œuvre zeichnete Bourgeois ihr Leben lang täglich. Das unmittelbare Festhalten ihrer Gedanken und Gefühle, die Verbindung zum Unbewussten zogen sie zu diesem Medium: »Zeichnungen sind Gedankenfedern, es sind Ideen, die ich im Flug ergreife und zu Papier bringe«, erklärte Bourgeois, deren Werk von starken Emotionen wie Einsamkeit, Wut und Angst geprägt ist.

Die meisten ihrer Zeichnungen aus den 1940ern sind titellos, die bereits erwähnte Spider (1947) aus Tusche und Kohle ist eine von wenigen Ausnahmen. In ihr manifestieren sich Bourgeois‘ stete, intensive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und die Suche nach der perfekten Form, die, wie sich in diesem Fall zeigt, auch erst 50 Jahre später ihr Ende findet. Bevor die erste Bronzeplastik entstand, zeichnet Bourgeois in den 1990ern zahlreiche weitere Spinnen, die das Tier als Symbol für ihre Mutter in allen möglichen Erscheinungsformen – teilweise mit menschlichem Gesicht oder Oberkörper − untersuchen.

Louise Bourgeois

Sainte Sébastienne (MoMA 504.2)

Found at Sothebys, New York
Important Prints & Multiples: Part I, Lot 9
15. Oct - 21. Oct 2021
Estimate: 15.000 - 25.000 USD
Price realised: 18.900 USD
Details

Ende des 20. Jahrhunderts, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, griff Louise Bourgeois auf weitere Themen ihrer Anfangszeit zurück. Das schwarzweiße Bild Untitled (Woman Giving Birth) aus Tusche und Bleistift von 1941 zeigt eine gebärende Frau aus der Vogelperspektive. Der bereits entbundene Kopf des Kindes ist so groß wie der der Mutter. Eine unvorstellbare Anstrengung, die sich kaum im Gesicht der Frau spiegelt. Lediglich die verzogenen Augenbrauen heben die Neutralität ihres Blicks auf. Dennoch beherrscht Liebe das Bild, Mutter und Kind ergeben eine Einheit, die langen Haare der Frau legen sich wie ein Schleier um den Kopf des Kindes. In The Cross-Eyed Woman Giving Birth (2005) wiederholt Bourgeois das Thema in einer roten Kaltnadelradierung: In zwei langen Strähnen umschließen die Haare eiförmig den Körper der Frau. Ihre angewinkelten, auf dem Boden liegenden Beine umgeben schützend das bis auf die Füße geborene Kind, das bereits in eine Decke gehüllt ist. Die Frau trägt nur eine Perlenkette um den Hals – ein vielschichtiges Symbol für Weiblichkeit und Liebe. Das Schielen − hier bei der gebärenden Frau erkennbar − hat eine lange Tradition in der Kunst. Es gilt als Ausdruck von Schmerz, aber auch von Glücksgefühlen und Ekstase.

In Sainte Sebastienne aus den 40ern griff Bourgeois das Thema des Heiligen Sebastian, einem römischen Soldaten und von Pfeilen gespickten Märtyrer, in abstrakter Form auf. Sie interessierte sich für die Darstellung von Schmerz, ohne dabei einen sich windenden menschlichen Körper zu zeigen. Es ist die Basis für dieses Werk. Durch den Titel lenkte sie den Blick speziell auf weiblichen Schmerz. Mehrere Radierungen aus den frühen 90ern mit demselben Titel und zeigen nun Frauenkörper mit starken Rundungen und zum Teil ohne Kopf, die von Pfeilen durchdrungen werden. Das hindert die Figuren nicht, mutig und energisch nach vorn zu schreiten. Seit der Renaissance verkörpern Sebastian-Bildnisse das Bild des schönen, standhaften Mannes. Bourgeois fand den modernen weiblichen Archetyp dieses Themas und bereicherte so auch einmal mehr die Kunstgeschichte.Art.Salon

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Im Fokus: Louise Bourgeois

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