Im Interview: Kim Kluge

Unscheinbares im Zentrum der Aufmerksamkeit

Von Filz zu digitaler Bildbearbeitung: Die intermediale Malerin Kim Kluge verknüpft digitale und analoge Gestaltungsmöglichkeiten bis hin zur Entwicklung einer neuen Technik, dem Malen mit der Filznadel. Aktuell arbeitet sie an einer Reihe großformatiger Graphit-Zeichnungen. Der Art.Salon hat sich darüber mit der Künstlerin ausgetauscht.

von Marius Damrow, 22. April 2025
Kim Kluge, Restless legs
Von der Künstlerin zur Verfügung gestellt.
Kim Kluge, Restless legs, 180 x 130 cm, Graphitzeichnung auf Leinwand, 2025

Ein Plädoyer für Tradition in der digitalen Welt: In ihren Werken der Reihe on the move vereint Kim Kluge digitale Ausdrucksformen mit künstlerischen Interpretationen traditionellen Handwerks. Die Künstlerin entwickelt fotografisch Entwürfe, die sie digital bearbeitet. Anschließend führt sie das Werk in einer äußerst arbeitsintensiven Technik in Filz auf Leinwand aus, indem sie mit der Filznadel immer wieder in die Wollfäden sticht, bis diese verfilzen und sich mit der Leinwand verbinden. Die so entstehenden Abbilder von Menschen und Objekten weisen eine Unschärfe auf, die je nach Nähe und Distanz des Betrachtenden andere Perspektiven auf die Arbeit ermöglicht. Kluge kombiniert digitale Techniken, deren Entwicklungen sich nicht ignorieren lassen, mit traditionellen Fertigkeiten, die nicht in Vergessenheit geraten sollen. Mit ihrer Arbeit hinterfragt die Künstlerin auf bloßen wirtschaftlichen Fortschritt ausgerichtetes Denken. Das passende Symbol fand Kluge im Filz, einem der ältesten Materialien der menschlichen Kultur, das ursprünglich für Kleidung verwendet wurde.

Seit Mitte 2023 arbeitet Kluge mit ihrer neuartigen Filztechnik. Die intermediale Malerin und Konzeptkünstlerin hat sich zuvor mit diversen Materialen und Themenkomplexen auseinandergesetzt, etwa mit den Wesens- oder Synthetik-Porträts, die weiter unten näher erläutert werden. Mit ihren Kunstwerken will sie Perspektivwechsel anregen und das Miteinander fördern: »Die Kunst soll keine Zierde sein, die unsere Wände nett dekoriert und auch keine Bombe, die unsere Wahrnehmung sprengt. Sie soll auf leisen Sohlen langsam in das Bewusstsein tropfen, uns sanft wecken, eine Art Hoffnung entfachen […]«, erläutert sie in ihrem Artist Statement.

Aktuell arbeitet Kim Kluge an einer Reihe großformatiger Graphitzeichnungen, die wie ihre Filzarbeiten Teil der Serie on the move sind. Wir haben mit der Künstlerin über ihre neusten Werke gesprochen:

Sehr geehrte Frau Kluge, mit den großformatigen Graphit-Zeichnungen betreten Sie ein neues Feld in ihrem künstlerischen Schaffen. Wie kam es dazu?

Als neues Feld würde ich diese Werke nicht bezeichnen. Sie sind eher eine logische Konsequenz aus meinem Gesamtwerk und bauen auf den vorherigen Werken auf.
Vor Beginn meines Kunststudiums (1993–1999 bei Walter Dahn) war ich vom Surrealismus und den alten Meistern der klassischen Moderne sehr bewegt und habe mich intensiv mit verschiedenen Genres auseinandergesetzt. In den großformatigen Graphitzeichnungen verbinden sich verschiedene Aspekte sowohl der sozialen Plastik, des Ready Made als auch Merkmalen des Realismus.

In der bildnerischen Komposition habe ich immer auf verschiedenen Ebenen mit künstlerischen Ausdrucksmitteln experimentiert. Malerisch, fotografisch, zeichnerisch und am Computer.
2012 hatte ich bereits die ersten Synästhetik-Portraits rein konzeptuell am Computer erstellt. Wesensportraits von Menschen des öffentlichen Lebens im streng geometrischen Stil. 2015–2018 gab es dann erstmals Wesensportraits in Acrylsandtechnik auf Holz. Sie muteten an, wie Scanstreifen im Stile konkreter Kunst. Später folgten verschiedene technische Experimente. Die Filznadeltechnik hatte ich 2012 erstmals kennengelernt und ein erstes Wesensportrait von Rothko angefertigt, aber dann zunächst einmal auf Eis gelegt. Erst mit der »True Colours Serie« begann eine lange Phase verschiedener Ausführungen von Wesensportraits in Filztechnik und später in Tuschetechnik auf Papier. Ich konzentrierte mich mit einer hohen Sensitivität auf die Konkretisierung des scheinbar nicht Sichtbaren, dem Wesen. In meiner künstlerischen Arbeit weise ich auf die leisen Töne hin, die neben dem Dauer-Krach unserer lauten Kultur auch existieren, jedoch wenig Beachtung finden.
Bewegung zum Beispiel ist auch eines der Themen, die wir nicht wirklich wahrnehmen. Die Natur ist permanent in Bewegung. Wir umkreisen die Sonne täglich in einem unfassbaren Tempo von 107.000 km/h. Vegetation wächst und vergeht. Wir werden geboren und sterben, bemühen uns aber redlich, die Welt quasi anzuhalten, indem wir Häuser für die Ewigkeit bauen und an allem physischen festhalten, als gäbe es das Prinzip von Werden und Vergehen gar nicht.

In der ersten Schwarz-Weiß Serie aus Filz geht es bereits um dieses Thema: In Bewegung sein, »On the move«. Im Verlauf der Schaffensprozesse mit Filz fragte ich mich allerdings, ob das Material Filz inhaltlich noch eine übergeordnete Rolle spielen soll. Ich wurde immer wieder gefragt, wie denn das Bild gemacht sei. Mich störte die Reduzierung auf eine Technik, auf die Physis des Bildes. Die Frage, »wie ist das Bild gemacht« sollte nicht im Fokus meines Werks stehen. Bleistift für meine Bewegungsbilder einzusetzen, schien mir logisch. Mit dem Bleistift kann ich im künstlerischen Prozess mehr in die raumgreifende Bewegung gehen. Als Schülerin hatte ich bereits 1989–1993 viel gezeichnet. Auch Auftragsarbeiten für Hunde- und Katzenportraits im hyperrealistischen Stil für ein Grafikbüro. In meinen neuen, noch unveröffentlichten Arbeiten greife ich das Thema Tierwelt auch tatsächlich wieder auf, aber natürlich aus neuer Perspektive.

Kim Kluge, Tim on the move 5
Von der Künstlerin zur Verfügung gestellt.
Kim Kluge, Tim on the move 5, 150 x 120 cm, Graphitzeichnung auf Leinwand, 2025

Einige Zeichnungen sind Teil einer »Sozialen Plastik« in einem performativen Setting, wie Sie beschreiben. Was genau bedeutet das?

Die Soziale Plastik oder »Soziale Skulptur« ist ein sogenannter erweiterter Kunstbegriff, geprägt von Joseph Beuys, der eine prozesshafte Kunst verfolgte, welche gestaltend auf die Gesellschaft einwirkt. Entscheidend ist hierbei die Einbeziehung menschlichen Handelns in einem Werk. 2019 habe ich mich erstmals an einer »Sozialen Skulptur« beteiligt, der Baumpflanzung entlang des ehemaligen Todesstreifens zwischen Kassel und Eisenach. Sie wurde von Johannes Stüttgen (Schüler von Beuys) nach dem Beispiel eines Landschaftskunstwerkes von Beuys »7000 Eichen-Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung« (anlässlich der Documenta 7) initiiert. Johannes Stüttgen lernte ich 2019 durch Frank H. Wilhelmi kennen. Stüttgen und Wilhelmi hatten schon vor 20 Jahren eine Gestaltungsinitiative für Kunst und Wirtschaft gegründet. In den Jahren 2019–2022 hatte ich anlässlich meines damaligen Vorhabens, in Kooperation mit dem Frauenmuseum Bonn die Arteconomie Gestaltungsinitiative für Kunst und Wirtschaft zu gründen, mit Frank H. Wilhelmi das Thema »Soziale Skulptur« gründlich erörtert.

Meine ersten Zeichnungen sind nach einer performativen Spontanaktion mit dem zeitgenössischen Maler und Performancekünstler Robert Reschkowski im Rahmen einer Ausstellung im Künstlerforum mit dem BBK Düsseldorf entstanden. Seinen performativen Einsatz habe ich während der Vernissage fotografiert und intermedial mit Filz weiterverarbeitet und in einer weiteren Ausstellung anlässlich der Kunstpunkteausstellung im Künstlerforum präsentiert. Daraus folgten weitere Aktionen, in denen ich Reschkowski in der Ausstellung fotografiert und anschließend gezeichnet habe. Später entstanden »Robert on the move« und »Waiting for the Exhibition«. Nun war die Idee geboren, zukünftig gemeinsame Environments zu planen, in denen die Besucher zur Interaktion eingeladen werden.

Robert Reschkowski kuratiert in Zusammenarbeit mit der Unternehmensgruppe »Lagergut«-Krefeld das »Kunstgutforum«, das ab September 2025 zeitgenössische, avancierte künstlerische Positionen zeigt. Unter dem Ausstellungstitel »On the move« werden meine Werke Mitte Oktober 2025 in einer Einzelausstellung im Hauptgebäude des Industriedenkmals CasinoStahlwerk in Willich präsentiert.

Die Unschärfe und das Thema Nähe/Distanz, die auch bei ihren neuen Filzarbeiten zentral sind, finden sich in den Graphit-Zeichnungen wieder. Beschreiben Sie bitte, was damit gemeint ist und wie das Konzept durch die Arbeit mit Graphit erweitert oder verändert wurde.

Je näher wir einem Menschen physisch oder mental kommen, umso undeutlicher wird er für uns. Er zerlegt sich quasi vor unseren Augen in tausend Einzelteile und Facetten, die wir aus der Nähe nicht mehr überblicken können. Den Menschen in seiner Gesamtheit als Ganzes zu sehen und wahrzunehmen ist nur aus einer gesunden Distanz möglich. In den Filzwerken kommt diese Unschärfe besonders gut zum Ausdruck, während bei den Bleistiftzeichnungen vor allem in den neueren Werken das Thema Bewegung mehr Gewicht bekommt. In dem Werk »Restless legs« zum Beispiel werden Elemente des Ready Made (Wasserhahn/ Badewanne) durch die Bewegung der Füße im naturalistisch dargestellten Wasser konterkariert. Unschärfe entsteht hier vor allem in den Bereichen, die sich bewegen. In allem Lebendigen also, das fähig und in der Lage ist, sich zu bewegen.

Die Zeichnungen sind etwa zwischen 150 und 180 x 130 cm groß. Wie und warum haben Sie sich darauf festgelegt? Haben Sie auch mit größeren und kleinen Formaten experimentiert?

An dieser Stelle möchte ich Walter Dahn zitieren: »Das Bild weiß selbst, was es braucht«. Ich bin inhaltlich nicht an Formate gebunden. Bei den Werken geht es mir um das richtige Verhältnis von den Faktoren Zeit und Raum. Wem diene ich damit, dass ich beeindruckende Werke in Ausmaßen kreiere, während Museen überfüllt sind von solcherart riesigen Werken. Soziale Skulptur heißt für mich auch, dass Werke räumlich bewältigbar sind. In Zeiten, da wir mit »höher, schneller, weiter« unsere Lebensräume zerstören, begrenze ich das Bildmaß für meine Werke auf höchstens 180–200 cm. Diese Breite entspricht ungefähr meinem eigenen Armspannmaß.

Kleinere Werke gibt es in meinem Repertoire selbstredend auch. So habe ich zum Beispiel im Rahmen unserer Ausstellung Fifty x Fifty mit der Künstlergruppe Bonn für den Kulturraum im Rathaus von Bad Honnef Zeichnungen auf Leinwand in 50 x 50 cm angelegt. Bei dieser Ausstellung ging es um das Thema der Begrenzung. Funktionieren Kunstwerke, die durch eine Maßfestlegung in ihrer Freiheit beschnitten werden? Ich hätte dieses Format selbst nicht gewählt und habe mich damit zunächst sehr schwer getan, aber im Gesamtkontext der Ausstellung war es mal eine interessante Erfahrung.

Kim Kluge, Waiting for the Exhibition
Von der Künstlerin zur Verfügung gestellt.
Kim Kluge, Waiting for the Exhibition, 180 x 130 cm, Graphitzeichnung auf Leinwand, 2025

Die Graphit-Zeichnungen sind auch im Vergleich mit ihren »Synästhetik-Porträts« interessant. Könnten Sie das Konzept dieser Bilder und ihre Beziehung zu den schwarz-weißen Zeichnungen erläutern?

Bei den Synästhetik-Portraits gibt es verschiedene Phasen und Ausführungen. Das Kernthema der dieser Arbeiten ist der umgekehrte Weg der Abstraktion. Ich abstrahiere nicht, sondern konkretisiere und materialisiere eine Wahrnehmung, die ich nicht beschreiben kann, und gebe ihr eine Form. Die Farben dienen dabei als Übersetzungsmodule.

Jede Farbe hat ein Wesen und jeder Mensch hat eine Art Wesensspektrum, das ich zunächst einmal den vier Elementen Feuer, Wasser, Erde, Luft zuordnen kann. Ich stelle Bezüge zwischen dem Wesen der Farbe und menschlichen Wesenszügen her, ordne zu oder ein, und gebe meiner Wahrnehmung eine konkrete Form. Das, was ich bisher als abstrakte Wahrnehmung realisiert habe, bekommt nun Raum. Nicht Sichtbares wird sichtbar gemacht.
Und hier ist die Schnittstelle zu meinen Zeichnungen, indem ich wenig beachteten Wahrnehmungssequenzen Raum verschaffe und offensichtlich Unscheinbares zu einem Kunstwerk erhebe.

Während die Zeichnungen der Serie »on the move« Menschen als Brustbild oder Ganzkörperporträt abbilden, richten Sie in Restless legs und Waiting for the exhibition auffälligerweise den Blick nach unten, auf die Füße. Welche Aussagekraft sehen sie darin, etwa unter dem Aspekt »Perspektivwechsel«?

Die Portraits »Tim on the move«, »Robert on the move« u.s.w. sind genauso Teil der Serie »On the move« wie die neuen Werke »Restless legs« und »Waiting for the exhibition«. Um Bewegung geht es immer in allen Werken. Alles ist immer in Bewegung. Im Kleinsten wie im Größten. Mikrokosmos, Makrokosmos. »Stillstand ist der Tod« singt Herbert Grönemeyer in seinem Song »Bleibt alles anders«. Bei den neuen Werken wird die Aussage erweitert. Hier geht es, wie eben schon beschrieben, um Momentaufnahmen, welche in der Regel unbeachtet bleiben. Sequenzen auf die man eher zufällig schaut, ohne ihnen eine Bedeutung beizumessen. Beine, die vor einem Stuhl platziert sind. Eine wahllos abgeworfene Tasche auf dem Boden und ein Gehstock. Während der Mensch hier größtenteils unscharf und unvollständig abgebildet ist, sind die Schatten um so schärfer. Das eigentliche, worum es geht, wird beliebig, während die sonst so nebensächlichen Schatten an Bedeutung gewinnen. Perspektivwechsel geschieht in diesen Werken durch die Verschiebung der Aufmerksamkeit. Ich lege andere Schwerpunkte und räume damit auch mit Gewohnheiten auf.

Spielten Surrealismus und Expressionismus, die ihr Frühwerk beeinflussten, bei den Graphit-Zeichnungen wieder eine Rolle?

Der Surrealismus ist geprägt durch Traumbilder. Szenen, die es so nicht geben kann. Meine neuen Werke erinnerten mich zunächst an diese frühe Phase, in der ich mich intensiv mit verschiedenen Genres der klassischen Moderne auseinandergesetzt habe. Der Surrealismus ist sehr erfinderisch und spielt mit dem Übernatürlichen, Traumhaften und Unmöglichen.
In meinen Werken geht es um etwas sehr viel realeres. Ich erfinde nicht, sondern greife auf – beobachte und interpretiere die Wirklichkeit neu, indem ich Bildschwerpunkte neu zentriere und Verbindungen aufdecke, wo man sie vorher nicht vermutet hat.

 

Herzlichen Dank für das Interview.Art.Salon

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