Petra Jaenicke: Dekonstruktivistische Fotografie

Zwischen Auflösen und Werden

Petra Jaenickes fotografische Arbeiten entziehen sich einer schnellen Lesbarkeit. Sie sind poetische Illusionen, Analysen der stets subjektiven Realität, geformt von Erfahrungen und Emotionen. Unter dem Begriff »Dekonstruktivistische Fotografie« legt die Künstlerin in ihren vielschichten Fotocollagen neue Ebenen der Wahrnehmung offen.

von Marius Damrow, 16. July 2025
Petra Jaenicke, Brave New World
Von der Künstlerin zur Verfügung gestellt.
Petra Jaenicke, Brave New World (from Liminal States)

Eine schemenhaft dargestellte Frau, die dem gigantischen Gebiss eines undefinierbaren Tieres ausgeliefert scheint – oder ist sie in ihrer Schattenhaftigkeit gar nicht greifbar und kann mit Leichtigkeit entfliehen? Brave New World ist eine rätselhafte Vision, zwischen Traum und Realität, losgelöst von der Zeit. Die Fotocollage stammt aus Liminal States, der aktuellen Serie der Künstlerin Petra Jaenicke, in der sie Zwischenzustände bildlich festhält, unabhängig von jeglichen zeitlichen und örtlichen Orientierungspunkten. »Meine Fotocollagen sind emotionale Landschaften, die innere Zustände widerspiegeln, die Gefühle und Wahrnehmungen hervorrufen und sich einer klaren Definition entziehen«, erläutert die Künstlerin in ihrem Artist Statement.

Seit 2016 ist die studierte Designerin, Fotografin und Pädagogin Petra Jaenicke freischaffend als Künstlerin tätig. Von New York über London und Paris bis Singapur hat sie ihre Arbeiten bereits präsentiert und Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Bei den Tokyo International Photo Awards etwa gewann sie 2022 mit ihrer Serie Stay Loose Preis für Fine Art in Silber.

Die Serie Stay Loose ist 2021 als eine Hommage an Joseph Beuys zu dessen 100. Geburtstag entstanden. Die Bilder sind Annäherungen an subjektive Visionen und erinnern durch die gleichzeitige Positiv- und Negativdarstellung der weiblichen Figuren an das kreative Potenzial in jedem Menschen. Die Fotocollagen entfernen sich vom Naturalismus, der der Fotografie anhaftet, und bilden das Nicht-Sichtbare und dessen immensen Einfluss auf die Realitäten der Menschen ab. Jaenicke nennt ihren experimentellen Ansatz, der die Wahrnehmung von Realität kritisch hinterfragt, »Dekonstruktivistische Fotografie«.

Petra Jaenicke, Plant Impossible Gardens
Von der Künstlerin zur Verfügung gestellt.
Petra Jaenicke, Plant Impossible Gardens (from Stay Loose)

»Im Mittelpunkt meiner künstlerischen Philosophie steht die Überzeugung, dass Realität von Natur aus subjektiv ist«, sagt Jaenicke. Geprägt von Erfahrungen, Erinnerungen und Emotionen erscheint den Menschen ihre Wahrnehmung der Welt bloß objektiv und ist in Wahrheit stete Interpretation. Mit diversen Gestaltungsmitteln wie Verdoppelungen, Abstraktionen und digitalen Übermalungen macht die Künstlerin die erweiterten Ebenen der Wahrnehmung sichtbar. Ihre Collagen dekonstruieren die Realität – und rekonstruieren sie wieder, aus extrem subjektiver Position, die auf innovative Weise alternative Darstellungsformen untersucht. Jegliche Spuren des scheinbar Objektiv-Sichtbaren der Fotografien, die die Basis der Collagen sind, werden so entfernt. »So befreit sich die Fotografie von ihrer darstellenden Funktion und behauptet sich als echte Kunstform«, beschreibt Jaenicke ihre Arbeitsweise.

Petra Jaenicke, Strangers Might Think Me Blessed
Von der Künstlerin zur Verfügung gestellt.
Petra Jaenicke, Strangers Might Think Me Blessed (from When Life Became Elusive)

Auf Stay Loose folgten die Serien When Life Became Elusive (2023) und The Wall (2024). In When Life Became Elusive geht es um das Finden von Mut und Hoffnung angesichts der Widerstände im Leben, gesehen aus weiblicher Perspektive. Die Bilder beschreiben Zwischenzustände von Menschen, die in Lebenssituationen hineingeworfen wurden und auf der Suche nach einer Lösung sind, die sich aber noch verbirgt. The Wall thematisiert die Ambiguität von inneren Mauern, die schützen, aber auch Wege versperren können. Diese Mauern sind Teil der wandelbaren Identität, die poetisch verbildlicht wird. Mit dieser Serie lädt Jaenicke die Betrachtenden ein, eigene und kollektive Grenzen zu reflektieren.

Neben Präsentationen auf Aufstellungen und Messen wurden Jaenickes fotografische Arbeiten auch in Magazinen veröffentlicht, darunter das Artdoc Photography Magazine. Zuletzt erschien ein Feature über ihre Arbeit im Arts To Hearts Magazine (Ausgabe 09/2025), einem internationalen Kunstmagazin mit Fokus auf feministischer Kunst und Kunst von Frauen.Art.Salon

Petra Jaenicke, The Wall For Elena
Von der Künstlerin zur Verfügung gestellt.
Petra Jaenicke, The Wall For Elena
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