Jordan Casteel – Die individuelle Persönlichkeit im Fokus
Die Porträts der jungen Künstlerin Jordan Casteel zeigen Personen in alltäglichen Lebenssituationen aus der Mitte der US-amerikanischen Gesellschaft, die lange Zeit in der amerikanischen Kunstwelt unterrepräsentiert waren. Mit ihren Werken schafft sie es, die ungesehenen Menschen sichtbar zu machen, unsere Perspektive auf sie zu verändern und deren individuelle Persönlichkeit in den Vordergrund zu rücken. Nun wird auch der internationale Kunstmarkt zunehmend auf die Künstlerin aufmerksam.
Jordan Casteel lenkt in ihren Bildern den Blick auf Personen, die in der US-amerikanischen Gesellschaft noch immer allzu oft ungesehen bleiben und nimmt damit weit über den Kunstmarkt hinaus Einfluss auf den gesellschaftlichen Diskurs. Ihre meist lebensgroßen Porträts überwiegend von Afroamerikanern zeigen Menschen in ganz alltäglichen, lebensnahen Situationen. Sie gibt damit Menschen ein Gesicht, die von dem über lange Zeit weiß geprägten (Kunst-)Establishment ignoriert wurden und in den letzten Jahren von zahlreichen Künstlern zunehmend in den Fokus gerückt werden. Nach einer ersten erfolgreichen Solo-Ausstellung bei Sargent’s Daughters in New York im Jahr 2014 gewann sie schnell an Sichtbarkeit im Kunstmarkt, es folgten zahlreiche Ausstellungen, Preise und Besprechungen in Zeitungen wie der New York Times. Seit drei Jahren finden sich ihre Arbeiten auch auf dem Sekundärmarkt und erzielen in internationalen Auktionen regelmäßig sechsstellige Beträge. Ohne Frage zählt Jordan Casteel mit ihren erst 32 Jahren derzeit zu den »Rising Stars« des Kunstmarktes – bei der sich eine nähere Betrachtung in jeder Hinsicht lohnt.
In der Kunstwelt zuhause
Casteel wurde 1989 in Denver, Colorado, geboren und lebte von klein auf in einem engagierten und künstlerisch geprägten Umfeld. Ihr Vater, der Unternehmensberater Charles L. Casteel, war schon früh systematischer Sammler von Werken Schwarzer Künstler, ihre Mutter Lauren Young Casteel war Präsidentin der Women’s Foundation of Colorado, die sich für die lokale Förderung von Frauen einsetzt, und ihre Großmutter Margaret Buckner Young zählte in den 1980er-Jahren zum Vorstand des Metropolitan Museum of Art. Casteel eignet sich also nicht für das Narrativ einer Outsiderin, die sich gegen alle Widerstände nach oben kämpft, trotzdem hatte sie später erhebliche Hürden zu überwinden, um nicht nur gezeigt, sondern auch gesehen zu werden.
Trotz anfänglicher Zweifel, ob die Malerei für sie als Grundlage zum Lebensunterhalt taugt, nahm Casteel ein Kunststudium auf, zunächst an der Lamar Dodd School of Art und später am Agnes Scott College, beide in Georgia. Während eines Auslandsjahres im italienischen Cortona entdeckte sie die Ölmalerei für sich, entschied sich nach ihrem Bachelor-Abschluss allerdings zunächst für die Lehre und gegen ein Leben als freie Künstlerin. Ein Entschluss, der nicht allzu lange halten sollte, denn bereits ein Jahr später setzte sie ihr Studium an der Yale School of Art fort, das sie 2014 mit einem Master of Fine Arts in Malerei und Druckgrafik abschloss. Noch im Sommer desselben Jahres erhielt sie das Angebot für ihre erste große Solo-Ausstellung in New York, die alles andere als unbeachtet blieb.
Zuspruch aus den falschen Gründen
Während Casteel ihr Studium in Yale absolvierte, erschütterte im Jahr 2012 wieder einmal ein Akt rassistischer Gewalt den liberalen Teil der Gesellschaft in den USA – ein Ereignis, das Casteels Kunst maßgeblich beeinflussen und bis heute prägen sollte. In einer Auseinandersetzung erschoss George Zimmerman, der Leiter einer Nachbarschaftswache in Sanford, Florida, den 17-jährigen afroamerikanischen Highschool-Schüler Trayvon Martin unter behaupteter, aber wenig plausibler Notwehr. Die örtliche Polizei sah zunächst keinen Anlass für eine nähere Untersuchung des Vorfalls, eine Anklage kam erst auf öffentlichen Druck zustande und endete in einem Freispruch. Der Vorfall wühlte nicht nur weite Teile der USA auf, sondern auch Jordan Casteel ganz persönlich, die sich daraufhin verstärkt mit Fragen von Rassismus, Ausgrenzung, Gewalt und Teilhabe beschäftigte und anfing, diese drängenden Themen in ihrer Kunst zu adressieren. Sie begann, vornehmlich Afroamerikaner zu porträtieren, überwiegend junge Männer, und rückte damit genaue jene Personen ins Zentrum ihrer Kunst, die im amerikanischen Establishment unterrepräsentiert sind und weit überproportional Opfer von Gewaltdelikten und nicht zuletzt auch von Polizeigewalt werden.
Die Rezeption ihrer Bilder in der Kunstwelt blieb allerdings nicht frei von Missverständnissen – ein ungewollter Spiegel der kommunikativen Dissonanzen, die zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen in den USA ganz offenkundig bestehen. So zeigte eine ihrer frühen Arbeiten einen Freund in einem »You Mad« T-Shirt von Nike und einer Mütze von den Atlanta Falcons – für Casteel eine selbstverständliche Alltagskleidung, für die etablierte Kunstwelt der visuelle Code für die Zuordnung einer Person zur Schwarzen Community. Damit verstand die Kunstwelt durchaus, dass hier auf einmal Personen in den Mittelpunkt gerückt werden, die in der etablierten Kunst bisher wenig Beachtung fanden, es gelang Casteel aber nicht, den Porträtierten tatsächlich ein Gesicht zu geben, denn die Betrachter thematisierten überwiegend die vordergründigen Chiffren und beschäftigten sich kaum mit der dargestellten Person selbst. Obwohl das Bild große Beachtung fand, muss Casteel dies wohl als innere Niederlage empfunden haben, wollte sie doch den Blick der Gesellschaft in eine neue Richtung lenken und erhielt den Zuspruch gerade dort, wo das Kunstestablishment seine Vorurteile über gesellschaftliche Codes unbewusst bestätigt sah.
»You mad sister?«
Casteel suchte daher einen Ansatz, um den Blick der Betrachter ihrer Bilder stärker zu lenken, sie zu zwingen, den individuellen Menschen wahrzunehmen und nicht an der Oberfläche der eigenen Vorurteile haften zu bleiben. Ein Vorhaben, das sich als außerordentlich diffizil erwies, denn sie bewegt sich damit in einem Spannungsfeld aus tief verwurzelten gegenseitigen Vorurteilen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen einerseits und andererseits einer unüberschaubaren Kakophonie all jener unzähligen Stimmen, die sich berufen fühlen, binäre Urteile über die »richtige« Repräsentation der Angehörigen unterschiedlichster Gruppen zu fällen.
Casteel entschied sich, die Männer in ihren Porträts von einigen sozialen Codes zu befreien und sie unbekleidet abzubilden. Dabei verzichtete sie zudem auf die Darstellung der Genitalien, da sie fürchtete, andernfalls der Fetischisierung und Hypersexualisierung von Schwarzen und damit dem nächsten Klischee Vorschub zu leisten. Wer sich auf dieses Themenfeld vorwagt, kann dies nicht tun, ohne aus der einen oder anderen Richtung erhebliche Kritik zu erfahren, und genau so erlebte es auch Jordan Casteel. Zum einen wurde ihr vorgeworfen, die Männer zu emaskulieren, gleichzeitig wurde sie dafür kritisiert, als Frau Kapital aus der Darstellung von nackten Männerkörpern zu schlagen.
Glücklicherweise disqualifiziert sich manche Kritik von selbst und so fühlte sich Casteel gerade auch durch den Widerspruch auf ihrem Weg bestärkt. Ihre Porträts zeigen keine Archetypen für das Schwarzsein in den USA, ebenso wenig wie sie stilisierte Männlichkeit oder andere Stereotypen abbilden. Vielmehr zeigen sie individuelle Persönlichkeiten mit einzigartiger Prägung, Erfahrung und Geschichte, und so waren es eben Väter und Söhne, Brüder und Ehemänner, die in ihrer ersten großen Einzelausstellung 2014 mit dem Titel Visible Man zu sehen waren.
Diesem Ansatz bleibt sie im Kern bis heute treu; auch wenn die Porträtierten inzwischen wieder Kleidung tragen und sich auch Frauen, Kinder und Paare unter den Motiven finden, steht doch immer die individuelle Persönlichkeit im Zentrum. Casteel lenkt stets den Blick auf die einzelne Person und rückt diese damit in den Fokus des gesellschaftliches Diskurses. Eine überzeugende Affirmation für ihren künstlerischen Weg, denn nichts anderes wollte sie bereits mit ihrem frühen Porträt des jungen Mannes im »You Mad«-Shirt erreichen. Doch die für sie wohl wichtigste Bestätigung dürfte der Zuspruch von jenen sein, die sie mit ihrer Kunst auf die Bühne hebt, etwa wenn der afroamerikanische Musiker und Kulturproduzent Greg Tate ihr attestiert: »Sister, you are the queen of capturing the souls of brothers.«
Jordan Casteels Auktionserfolge
Ein »Rising Star« auf dem Kunstmarkt
Parallel zu ihrer künstlerischen Entwicklung wuchsen auch die Anerkennung unter Kunstkritikern und der Erfolg auf dem Kunstmarkt. Forbes führte sie auf der 30 under 30-Liste für Art & Style 2019 und vom Agnes Scott College wurde sie als Outstanding Young Alumni 2021 geehrt. Sowohl sie als auch ihre Arbeiten schmückten die Titelblätter zahlreicher Magazine wie der Vogue, für die Casteel Aurora James porträtierte, oder des Time Magazine, das ihre Arbeit God Bless the Child für das Cover der Sonderausgabe Visions of Equity auswählte.
Seit 2018 sind erste Arbeiten von ihr auf dem Auktionsmarkt zu finden – mit einer bemerkenswerten Preisdynamik. »Schnäppchen« wie 2018, als die Arbeit Lost Tribes für 81.250 USD den Besitzer wechselte (immerhin mehr als das Vierfache des oberen Schätzpreises) sind heute wohl nicht mehr zu machen, mittlerweile erzielen ihre Arbeiten regelmäßig mittlere sechsstellige Beträge. Jordan Casteel verspricht daher nicht nur eine spannende künstlerische Entwicklung, sondern etabliert sich auch zunehmend als »Rising Star« auf dem Kunstmarkt.
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